Persönlichkeitsentwicklung: lebenslange Arbeit an sich selbst?

Ich habe in meinem Leben eine große Zahl von Übungen gemacht, um an mir selbst, meinem inneren Zustand, meinem Körper, meinem Verhalten zu arbeiten und ein irgendwie glücklicherer, weniger leidender Mensch zu werden. Alle spirituellen Lehren und psychologischen Methoden geben vor, unablässig an sich zu arbeiten und zu üben, Tag für Tag. Einfach nur so zu leben geht gar nicht, nach dem Motto „Stillstand ist Rückschritt“.

Um ein anderer, glücklicherer Mensch zu werden, scheinen die „Bordmittel“ nicht auszureichen. Anscheinend ist Input von außen erforderlich, um weiterzukommen. Eine Unzahl von Systemen versprechen Besserung. Es gibt dabei Übungen, die nur durch häufige Wiederholungen „verinnerlicht“ werden, was z.B. für das Yoga-System oder Qi Gong gilt. Ein anderer Übungstyp soll zu neuen Erfahrungen führen, die die bisherige Erfahrungswelt erweitern und bislang unbekannte Erlebnisweisen ermöglichen. Da reichen oft schon einmalige Erlebnisse aus, wenn sie sehr eindrücklich sind und zu nachhaltigen Veränderungen führen, z.B. eine Mutprobe wie ein Feuerlauf.

Die Empfehlung des permanenten Übens steht auf der anderen Seite im Widerspruch zu den Aussagen weiser Menschen, die berichten, dass im höheren Bewusstseinszustand (ich nenne es „Präsenz“) „alles da ist“, was wir brauchen. Wenn ich also immer in der Präsenz lebe, wäre demzufolge auch immer „alles da“? Warum dann noch üben? Wie passt das alles zusammen?

Der Begriff „Arbeit“ ist in erster Linie assoziiert mit einem gewissen Zwang, seine Unlust zu überwinden, um als Belohnung etwas Erwünschtes oder dringend Benötigtes zu bekommen. In der Berufswelt ist das vor allem Geld, aber auch sozialer Status. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ ist die alte, aber für viele immer noch gültige Formel. Dass Arbeit sogar Freude und Vergnügen machen kann, kommt in dieser Denkweise nicht vor. Nein, zunächst muss zumindest ein bisschen gelitten und Lustaufschub bzw. -verzicht ausgehalten werden. Sonst würde man ja auch doppelt belohnt werden mit Lust und Geld/Status. Das geht doch gar nicht, oder?

Es gibt keinen natürlichen „Erwerbstrieb“, sondern etwas zu tun, um zumindest das Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, ist etwas, das wir erst im Lauf unserer Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen lernen- oder vielleicht auch nicht. Vielleicht fing das alles mit der „neolithischen Revolution“ an, dem Übergang der Menschheit vom Stadium des Sammlers und Jägers zum sesshaften Ackerbauer. Während die Steinzeitmenschen nur einige Stunden am Tag mit der Essensbeschaffung zu tun gehabt haben sollen, also richtig viel Freizeit hatten, musste der Ackerbauer im Voraus planen, sein Land sichern, sich über Monate um das Getreide und Gemüse kümmern. Und das nicht mit spontaner Beliebigkeit, sondern so wie die Pflanzen und das Wetter es jeweils erforderten.

Ich gehöre zu den Menschen, die so geprägt sind, dass sie gar nicht erst lange fragen, ob ständige Bemühung und „Arbeit“ erforderlich sind, um ein gutes Leben im Einklang mit sich und der Welt zu führen. Dementsprechend war in mir schon immer die Bereitschaft, dafür beharrlich an mir zu arbeiten, und zwar jeweils nach diversen, von außen vorgegebenen Systemen. Erst spät fand ich Zugang zu der ganzheitlichen Sicht- und Vorgehensweise im „Focusing“, die von (Eu)Gene T. Gendlin entwickelt wurde. Diese integriert Körper, Geist und Seele auf eine geniale Weise durch den vertieften Zugang zur eigenen Innenwelt und verändert auf eine unspektakuläre Weise – Schritt für Schritt im Hier und Jetzt- das ganze Leben.

Der 2017 verstorbene Philosoph und Psychotherapeut, vertritt einen Ansatz, der auf eine stille Weise revolutionär und radikal ist. Es geht darum, zurückzugehen, zurück zu den Quellen, zu dem Ursprung in uns, als Körper und Geist noch nicht gedanklich getrennt waren, sondern ein untrennbares Ganzes. Seine sehr genau ausgearbeitete Methode kommt nicht (nur) vom vielen Nachdenken und Konstruieren im Elfenbeinturm, sondern aus seiner lebenslangen, lebendigen Erfahrung als forschender und erfolgreich praktizierender Psychotherapeut- eine einmalig glückliche Kombination.

Gendlin geht davon aus, dass Menschen wie auch alle anderen Lebewesen das Wissen um den richtigen Weg tief in sich verborgen bereits in sich haben; auch, wenn dies zunächst oft nicht sichtbar ist und dieses Wissen nicht leicht aufzufinden ist. Da ist kein Input von außen, sind keine „klugen“ Ratschläge nötig. Letztere sind oft sowieso gar nicht wirklich klug, weil sie für den Betreffenden nicht wirklich passen. Wenn wir (wieder) lernen, Zugang zu der inneren Quelle zu bekommen und die ganz leisen inneren Zustände, die man auch Intuition nennen könnte, zu nutzen, bringt uns das auf den Weg, der für uns richtig, stimmig ist, mit dem wir uns wirklich wohl fühlen. Und das auf unsere ganz spezielle, höchstpersönliche, maßgeschneiderte einmalige Weise, die Körper, Geist und Seele einbezieht. Das bedeutet natürlich nicht, blind für die Umgebung zu werden, die immer auch mehr oder weniger einzubeziehen ist.

„Intuition“ ist etwas, das man irgendwie in sich, im Körper spürt, oft im Bauchraum als „Bauchgefühl“. So gesehen ist es eine körperliche Erfahrung, die aber gleichzeitig viel mehr als das ist. Ohne dass wir einen lebendigen Zugang zu unseren Gefühlen und Körperempfindungen haben, übersehen/überhören wir dieses Gespür für das Richtige in uns sehr leicht. In der Schule lernen wir vieles, aber nicht mit offenem Geist nach innen zu spüren. Meist herrscht dann das „Kopfkino“ in uns vor, was durch den überbordenden Input, dem sich die meisten heute aussetzen, ständig massiv angeheizt wird. Soziale Kontakte, Urlaube, Freizeitaktivitäten und die diversen Medien liefern ohne Ende Ablenkung von sich selbst. Da wird wie wild konstruiert und fantasiert, oft aber ohne wirklichen Bezug zu unserer tieferen Wahrheit.

Zurück zu der Ausgangsfrage, ob „Arbeit“ für die persönliche Entwicklung erforderlich ist. Meine Enkelin, jetzt fast 3 Jahre, verbringt den ganzen Tag damit sich zu entwickeln, körperlich wie geistig und seelisch. Ihre Eltern helfen ihr dabei, so gut es geht. Arbeitet sie unablässig an sich? Ich kann sie so etwas noch nicht fragen und sie kann noch nicht antworten. Aber ich stelle mir vor, wenn sie es schon könnte, wäre ihre Antwort etwa folgende. „In meiner Welt, in meinem Leben und in mir ist immer alles in Bewegung. Ich versuche immer, das Beste aus jeder Situation zu machen und dabei ständig meine Möglichkeiten und Fähigkeiten zu erweitern. Ich spüre in meinem Körper-Geist-Seele-System, dass es das Richtige für mich ist, und deswegen mache ich das. Wie man das nennt, ist mir egal.  Was „Arbeit“ und Geld ist, kann ich mir nicht vorstellen. Mich immer weiter zu entwickeln, bedeutet aus meinem Leben alles herauszuholen, was drinsteckt. Das fühlt sich gut an und ich weiß einfach, dass es nicht besser sein kann, auch wenn es nicht immer nur Spaß macht.“

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