Gedanken zu Gert Scobel: Achtsamkeit 1-3 (Videos auf You Tube)

Über die letzten Jahre habe ich immer wieder mal Fernseh-Sendungen von Gert Scobel angesehen, die für meine Wahrnehmung immer durch ihre besondere Qualität als exzellenter (Wissenschafts-)Journalismus aus dem Ozean von Angeboten herausragten. Wiederholt ging es auch um Meditation und Verwandtes. Jetzt habe ich über die o.g. Videos auch erfahren, dass Gert Scobel seit seiner Jugend, genauer seinem 16. LJ, Meditation praktiziert. Das heißt also etwa seit dem Jahr 1975. Das finde ich deshalb interessant, weil es mich einige Jahre später – damals nach Familiengründung Stationsarzt in der Neurologie einer Uni-Klinik-, nämlich ab 1982, zur Vertiefung meines seit meiner Jugend bestehenden Interesses an Buddhismus und Yoga zog. Es war die Sehnsucht nach Verwandlung des „Alltags“ in etwas Besseres, Höheres, Freieres, die mich dazu brachte- so würde ich es heute ausdrücken. 1983 machte ich erstmals ein einwöchiges Schweigeretreat bei der Deutsch-Amerikanerin Toni Packer im Haus der Stille in Roseburg bei Hamburg mit. Ich war ziemlich verbissen, „Höheres“ zu erreichen, und hatte das Glück, ein erstes „Gipfelerlebnis“ zu haben, wie ich es in meinem Buch geschildert habe.

Von da an lebte ich in zwei Parallelwelten: meiner beruflichen Laufbahn (Neurologe und Psychiater, seit 15 Jahren ausschließlich Psychotherapeut in eigener Praxis) im „normalen Leben“ und der Beschäftigung mit Meditation mit vielen Stunden auf der Matte. Beides schien nichts miteinander zu tun zu haben. Dabei weiß ich noch genau, wie ich nach meinem „Gipfelerlebnis“ beim Abschied zu Toni sagte: „Jetzt geht die Übung doch erst richtig los, nämlich im täglichen Leben…“ Toni hatte sich damals gerade von der Tradition des Zen-Buddhismus distanziert. Sie war zunächst Nachfolgerin von Philip Kapleau geworden, der durch sein Buch „Die drei Pfeiler des Zen“ (1969) bekannt geworden war, wollte aber dann nicht mehr in der dort vorherrschenden Hierarchie arbeiten, auch wenn es eine Versuchung gewesen sein muss, als „Meisterin“ vor sich vor ihr verbeugenden Menschen zu stehen. Sie erschuf -Schritt für Schritt- etwas Neues, das von allem befreit war, was ihr in ihrer sehr vorsichtigen, klugen und zutiefst ernsthaften Art als nicht wirklich essenziell erschien. Keine Roben mehr, keine Verbeugungen, kein Kyosaku. Sie integrierte dann auch die Teachings von Jiddu Krishnamurti, der sich ähnlich wie sie aus der Bewegung der Theosophen (Rudolf Steiner war zunächst auch Theosoph) radikal gelöst hatte, nachdem diese ihn mit ca. 30 Jahren zum neuen Messias krönen wollten, der die Welt revolutionieren würde.

Jiddu Krishnamurti wirkte dann über 60 Jahre als relativ bekannter und von vielen hochgeschätzter spiritueller Lehrer und gab über 60 Jahre lang überall auf der Welt seine spezielle Art von Unterweisungen, immer im Dienst der geistigen Befreiung des Menschen. Dadurch wird er die Welt, wie wir heute mit einer Art Anglizismus sagen könnten, zu einem besseren Ort gemacht haben. Nichtsdestotrotz fanden der 2. Weltkrieg und unzählige andere Kriege statt- der reine zerstörerische Wahnsinn mit unvorstellbarem Leid.

Verwirklicher

Erstmals hatte ich glaube ich von Ole Nydahl, einem tibetisch-buddhistischen Lehrer, – wegen seiner ungehemmten, manchmal sehr ungehobelten Art und fragwürdigen politischen Statements nicht unumstritten- den Begriff „Verwirklicher“ gehört. Seine Art zu lehren durchzieht bis heute eine eigenartige hybride Struktur: einerseits beruft er sich auf die (tibetisch-buddhistische) Tradition mit der Idee, die ursprüngliche Lehre des Buddha wäre von Mensch zu Mensch in einer langen Kette weitergegeben worden, von Lama zu Lama. Andererseits hatte er vom 16. Karmapa (seinem Lehrer) den Auftrag erhalten, auf zeitgemäße, westliche, moderne Art zu lehren, was er auch umgesetzt hat. Danach sind die in anderen buddhistischen Richtungen mit großer Ergebenheit verehrten Mönche vom Podest gestoßen und landen nur auf dem 2. Platz. Und das meiner Meinung nach zu Recht: Denn im Rückzug aus dem normalen Leben, in der friedlichen Umwelt eines Klosters in höhere Zustände zu gelangen ist das eine. Dies aber im Alltag zu tun, ist deutlich herausfordernder und schwieriger, kann aber, wenn es gelingt, Kräfte entfalten, das eigene Leben zu transformieren und damit auch ein Stück weit die soziale und auch materielle Umwelt, also auch das Leben der Anderen. Statt wohlfeilem Wortgedrechsel, das gefällig sein mag, geht es da um Taten, Entscheidungen und Bewährung in schwierigen Situationen und um richtiges Leben im Hier und Jetzt, inklusive Partnerschaft, Sexualität, Kinder bekommen und „erziehen“, Umgang mit der Umwelt bis hin zu politischer Wirksamkeit.

War eigentlich der Buddha ein Verwirklicher in diesem Sinn? Ich fürchte nur begrenzt, denn, wie ich es mir vorstelle, setzte er dem damals vorherrschenden Hinduismus, vermutlich mit dem vorherrschenden Blick auf Äußeres wie imaginierte Gottheiten etc., etwas ganz anderes entgegen, wie auch Luther seinerzeit. Seine Botschaft war: du findest alles in dir, du musst nur lernen, genau hinzuhören, genau zu spüren. In meinen Worten: wir haben alles an Bord, was zum Aufwachen nötig ist. Gute spirituelle Lehrer*Innen weisen uns immer wieder darauf hin, weil der gesellschaftliche Mainstream in unserer durch und durch materialistischen Gesellschaft ganz anderes auf dem Plan hat. Vermutlich war es vor 2500 Jahren nicht anders als heute: die meisten Menschen brauchen zumindest den vorübergehenden Rückzug (in die Stille, in die „Meditation“), um die inneren Schätze überhaupt zu entdecken. Damit war also das Entfernen aus dem „normalen“ Leben vorgegeben. Und dabei blieb es lange Zeit.

Aber etwa seit den 1980’er Jahren kamen immer mehr moderne spirituelle Lehrer*Innen auf den Plan, die eben dieses Ziel hatten: Verwirklicher zu werden und andere dazu anzuleiten. Arjuna Ardagh hat in seinem Buch diese „stille Revolution“ (deutscher Titel) beschrieben (Englischer Originaltitel „The Translucent Revolution”). Mit “translucent” ist gemeint, dass Menschen äußerlich ein unauffälliges Leben in der Gesellschaft leben, aber die höheren Zustände durchscheinen. Unter ihnen sehe ich auch Jon Kabat-Zinn, der quasi die ursprünglich buddhistische Meditationsform Vipassana zu etwas destilliert hat, was für den westlichen Menschen gut annehmbar war: ganz und gar ohne esoterisches Schnick-Schnack und ohne den Bezug zu „uralten Traditionen“.  So wie meines Erachtens schon vor etwa 100 Jahren J.H. Schultz das „autogene Training“ sozusagen aus den östlichen Lehren extrahiert hat. Für viele ist, was blieb, viel zu wenig, war und ist aber für zahlreiche Anwender segensreich. Ich selbst habe früher auch AT gelehrt, habe es aber längst durch den body scan ersetzt, weil es besser nicht darum geht, der Wirklichkeit zu entfliehen in einer Trance wie im AT, sondern um das Aufwachen, zu dem, was ist, jetzt und hier.

Aufklärung: (Neuro-)Wissenschaftlich informiert?

Der Buddha und nach ihm unzählige östliche spirituelle Lehrer waren sehr wahrscheinlich nicht (natur-)wissenschaftlich gebildet, geschweige denn neurowissenschaftlich. Wie sollten sie auch? Der enorme Siegeszug der Naturwissenschaften und vor allem ihrer technischen Anwendungen wurde erst seit etwa 300 Jahren durch den westlichen Geist möglich, alles soweit es geht in seine Einzelteile zu zerlegen und sich dann zu fragen, wie diese Elemente zusammenwirken, um das Ganz zu ergeben. Heute ist man damit längst in der subatomaren Welt angelangt, die nur noch spezialisierte Atomphysiker verstehen. In der Welt, auch der naturwissenschaftlich-technischen, herrscht allerdings immer noch das Denken in Newton’scher Sicht vor, also der Weltsicht vor Einstein. Das reicht auch aus, um unglaubliche Bauwerke zu errichten und Raketen zum Mond und zurück fliegen zu lassen. Aber eigentlich ist alles viel komplexer als eine Welt mit drei räumlichen Dimensionen und der (scheinbar unveränderlichen) Zeit.

Das bringt mich zurück zu meiner eigenen Entwicklung „in zwei Welten“: der naturwissenschaftlich geprägten Schulmedizin und eben jener anderen „geistigen“ Welt, die im Wesentlichen durch Weisheiten aus dem Osten geprägt ist mit seinen holistischen Ansätzen. Auch ich bin unmerklich zum Verwirklicher geworden, in meinem privaten Leben wie auch als Psychotherapeut. Wie passt das alles zusammen? Sollen alle Menschen weiter im Grünen auf Meditationsmatten in sich gekehrt sitzen, während die Welt durch endlose Konflikte und die Ausbeutung des Planeten Erde den Bach runtergeht?! Oder geht es auch anders?

Auch ich fühle mich als Advokat der Aufklärung wie Gert Scobel. In meinem Buch habe ich versucht, meinen ganz persönlichen, naturgemäß subjektiven Beitrag zur Integration der beiden Seiten zu leisten, indem ich mich in möglichst einfacher Sprache ausgedrückt habe. Ich habe dabei meine Beschreibung vom höheren Bewusstseinszustand gegeben, der meiner Meinung nach auch zu unserer Grundausstattung gehört. Deshalb braucht es auch keine neurowissenschaftlichen Erklärungen bzw. „Beweise“ und Rechtfertigungen, außer, man möchte Wissenschaftsgläubige überzeugen.

Vermutlich hatte der Buddha allenfalls eine sehr vage Vorstellung von seinem eigenen Gehirn und vielleicht auch von einem Nervensystem oder ähnlichen Steuerungsmechanismen. Trotzdem berufen sich noch 2500 Jahre später viele Menschen auf ihn. Wie passt das zusammen?

Ich denke, es passt nur deshalb, weil er die dem Menschen eigentlich zutiefst vertraute Weisheiten anspricht. Wer Buddha liest, spürt innerlich die Wahrheit dieser Worte, wenn er bereit ist, sich dem zu öffnen, und zwar deshalb, weil er sie in sich trägt. Da muss er nicht glauben, sondern intuitiv fühlt er, weiß er. Und deshalb braucht auch der Verwirklicher keine (Neuro-)Wissenschaft. Auch wenn sie nützliche Ergänzungen und Bereicherungen liefert und man vielleicht einige Zweifler damit überzeugen kann. Und das ist vielleicht für viele Menschen wichtig, weil es sozusagen einen Vertrauensvorschuss erzeugt. Bei der Umsetzung in der eigenen Praxis wächst dieses dann von selbst.

Aber essenziell ist das alles nicht. Deshalb habe ich solche „Rechtfertigungsversuche“ in meinem Buch gar nicht erst gemacht, obwohl ich als ausgebildeter Neurologe und Psychiater eine Menge dazu sagen könnte.

Also, was braucht der Mensch als Wichtigstes, um zu erkennen, um was es im Leben geht? Freiheit von einengenden Ideologien (und deren Vertretern) aller Art! Freiheit, um von der eigenen Intelligenz vollen Gebrauch zu machen. Und so verstehe ich auch die „Aufklärung“. „Werdet wie die Kinder!“ heißt es in der Bibel. Ja, kleine Kinder, soweit sie behütet und nicht früh traumatisiert aufwachsen konnten, sind noch frei und klar im Kopf, neugierig und offen, weil ohne Dogmen, wenn man sie lässt. Und die brauchen auch keinen body scan, weil sie noch ganz natürlich mit ihrem Körper und dessen (verkörperter) Intelligenz verbunden sind. Sie sind noch nicht fragmentiert und haben noch nicht die verbreitete Krankheit unserer Zeit: „Verkopftheit“, in der der Mensch zu sehr im Intellekt lebt und sich damit von sich selbst entfremdet. Neurowissenschaftliches Informiertsein mag für manchen nützlich und auch spannend sein, es ist aber nicht essenziell. Viele könnte die vermeintliche Notwendigkeit dieser Art von Wissen nur weiter in ihre Verkopftheit-Krankheit hineinführen.

Wie sagte der Dalai Lama, gefragt nach seiner Philosophie, so schön? Ich habe einen Kopf und ein Herz und meine Philosophie ist Freundlichkeit. Ich zitiere aus dem Gedächtnis und füge das unausgesprochene: „und das reicht völlig!“ hinzu. Und einer der modernen Väter des Yoga sagte so schön und schlicht: 1% Theorie und 99 % Praxis.

Heilung ohne „Nebenwirkungen“?

Gert Scobel geht leider von einem alten, bei Naturwissenschaftler*Innen verbreiteten Dogma aus: „keine Wirkung ohne Nebenwirkung“. Mit dieser Argumentation wurde in meinen jungen Jahren als Assistenzarzt z.B. die Akupunktur diskreditiert. Sie passte einfach so gar nicht in die damalige schulmedizinische Landschaft. Für die, vor allem pharmakologische, Einwirkung auf den Körper in der Schulmedizin mag das ja noch gegolten haben, in der Vorstellung, wenn ich in einer hoch-komplexen Maschine ein Rädchen auswechsele, muss es irgendwie auch unerwünschte  Wirkungen (das ist der korrekte, weil nicht-bewertende Ausdruck) geben. Kein Wunder, denn die diese Einwirkungen sind oft viel zu grob für den höchst komplexen Organismus. Heute stellt kaum jemand die Akupunktur ernsthaft infrage, einfach deshalb, weil sie – richtig eingesetzt- wirkt. Wer heilt, hat Recht. Das wird heute akzeptiert.

Gilt das aber auch für seelische Heilung? „Heil“ heißt nicht zuletzt „ganz, vollständig“. Ebenso wie „medicus curat, natura sanat“ (der Arzt kuriert, die Natur heilt), kann wirkliches Ganzwerden nur von innen heraus geschehen, indem der zugrunde liegende „Bauplan“ ungestört realisiert werden kann und der Arzt/ spirituelle Lehrer dabei hilft. So kann eine Wunde verheilen, körperlich wie seelisch. Und eine wirkliche Heilung hat dabei eben keine „Nebenwirkungen“, warum sollte sie, sieht man davon ab, dass Veränderungen bei einem Menschen auch Veränderungen in dessen Umwelt nach sich ziehen werden. So, wie das oft in gut laufenden Psychotherapien geschieht, wenn es z.B. dem Partner oder den Verwandten oft gar nicht recht ist, dass jemand besser für sich selbst sorgt und damit für andere unbequemer wird.

Gert Scobel hat sicher Recht, wenn er auch unerwünschte Auswirkungen meditativer Praktiken erwähnt. Gerade der body scan und das Achtsamkeitstraining im engeren Sinn sind da aber nun völlig unverdächtig, weil sie „erden“ und den Realitätsbezug stärken, der immer über den Körper gehen muss. Ich wüsste auch nicht, warum ein Mensch, der besonders extreme Spaltungsmechanismen in sich trägt (fast immer durch Traumatisierung und deren Bewältigung verursacht), genannt „Borderline-Syndrom“, nicht von einem body scan profitieren sollte. Meine Erfahrung ist übrigens, dass viele Menschen, deren Stabilität gefährdet ist, sowieso instinktiv von sich aus alles meiden, was destabilisierend wirken könnte. Ausnahmen davon gab es und wird es immer geben. Das Ausbrechen einer Psychose (mit massiv gestörtem Realitätsbezug) kommt trotz aller Bemühungen vieler Lehrer*Innen, das zu vermeiden, immer wieder mal vor und es bräuchte hellseherische Fähigkeiten, um das zu ganz auszuschließen. Und „spirituelle Krisen“, die man mit einem neuen, integrierten Denken auch als Entwicklungskrisen verstehen kann, habe ich in Jahrzehnten höchst selten erlebt. Sie spielen nach meiner Erfahrung jedenfalls wirklich keine große Rolle.

Zwei wichtige Gründe, warum Achtsamkeit und Meditation allein zu wenig sein können

Wer regelmäßig meditiert und um ein achtsames, bewusstes Leben bemüht ist, oder auch andere spirituelle Übungen macht, verbessert dadurch seine Lebensqualität deutlich. Sie/er wird ruhiger, klarer, ist mehr bei sich, alles wunderbare Voraussetzungen, um auch die Beziehung(en) zu verbessern. Oft bleiben aber trotz dieser Übungen und der dazu nötigen Disziplin Schwierigkeiten und Probleme gerade in der Partnerbeziehung. Spannungen, Konflikte, Streit bleiben ein Dauerthema und es stellt sich einfach keine gute Entwicklung ein. Warum ist das so? Und wie kann man es ändern? In diesem Blog nenne ich zwei wesentliche Gründe und Ansätze zur Abhilfe.

„Zwei wichtige Gründe, warum Achtsamkeit und Meditation allein zu wenig sein können“ weiterlesen