So fasse ich kurz den Tenor eines Zeitungsartikels zusammen, der kürzlich im renommierten „Tagesspiegel“ zu lesen war. Dieser von bemerkenswerter Unkenntnis geprägte Artikel brachte mich dazu, einen Leserbrief zu schreiben, den ich hier wiedergebe.
Leserbrief an den „Tagesspiegel“ zum Artikel „Arbeit am Ich“ – „Mindfulness“: Die neue Achtsamkeitslehre soll der Selbstoptimierung dienen, nützt aber vor allem ökonomischen Interessen“ in der Ausgabe vom 18. August 2019
Der Autor des Artikels skizziert -mehr zwischen den Zeilen als explizit- eine neue Gefahr, die unserer Gesellschaft drohe. In diesem Schreckensszenario verfallen danach immer mehr Menschen einem Lebensstil, sich auf eine private Welt von psychischer Wellness zurückzuziehen und dabei -quasi sediert- sich ihrer politischen Mitverantwortung für die Gesellschaft zu entledigen. Ge- und verführt durch „Achtsamkeitslehrer“, die dafür schändlicherweise auch noch Geld bekämen, würden wichtige Emotionen wie Hilflosigkeit, Angst und Wut „wegmeditiert“. So würde ihr „Oberguru“ (Jon Kabat-Zinn) es vorgeben, um angeblich diese Welt (doch noch) zu retten. Dabei würden sie nicht merken, wie sie dabei zu noch besser ausgebeuteten Opfern einer Groß-Unternehmen-Maschinerie (Nutznießer/Täter im Einzelnen unbekannt) in einer immer inhumaneren Arbeitswelt würden.
Die benutzten Quellen für die Überlegungen und Mutmaßungen des Autors sind anscheinend vor allem zwei Bücher von Kritikern der „Achtsamkeits-Bewegung“. Leider scheint er wenig oder keinen Kontakt zu „Betroffenen“ zu haben, jedenfalls werden solche nicht benannt. Und eine persönliche Erfahrung von dem anderen Bewusstseinszustand, um dessen Erreichung es geht, scheint nach meinem Eindruck schon gar nicht gegeben. Also: keine Informationen aus erster Hand. Schade! Über die vielen Missverständnisse, denen der Autor unterliegt, könnte man ein ganzes Buch schreiben.
Die Grundidee, dass Menschen, die nach geistiger Befreiung und „Erleuchtung“ (was immer im Einzelnen darunter verstanden werden mag) streben, sich auf ihre privaten Inseln zurückziehen und damit unpolitisch werden, scheint mir dabei aber durchaus bedenkenswert. Als jemand, der selbst zu der Sorte Mensch gehört, die ihr Leben lang nach Befreiung und Verminderung des Leidens gesucht haben, muss ich einräumen, dass der Rückzug mit wenig politischem Interesse auch für eine längere Zeit Teil meines Lebens war. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein vertieftes Erleben von sich selbst (zunächst) ein Fernhalten von einer übermäßig geschäftigen Lebensweise mit einem Übermaß an „Input“ von außen beinhalten muss. Die nie endende Agenda des Funktionierens in einer materiell-technisch dominierten Umwelt würde sonst den ganzen Raum einnehmen und die leisen, sehr subtilen inneren Signale der Intuition würden ständig übertönt. So vielen Menschen ist bewusst, dass sie „nur funktionieren“, nicht „zu sich“ kommen, aber sie können Hilfen gebrauchen, wie man das ändert.
Wenn dabei tatsächlich grundlegende Emotionen wie Angst und Wut über äußere Missstände „wegmeditiert“ würden, wäre das in der Tat keine gute Entwicklung. Denn es ist richtig, dass sonst die Energielieferanten für Veränderungen in der Welt beseitigt würden. Es geht hier aber wohl um ein ganz grundlegendes Missverständnis von der Grundhaltung der bedingungslosen Akzeptanz, die zum Leben in der Präsenz (so drücke ich es gerne aus) gehört. Sobald ich in meiner subjektiven Welt Gedanken, Emotionen, Körperempfindungen, Wahrnehmungen aus der Umwelt oder was auch immer zurückweise, versuche ich sie zu verdrängen, woraufhin sie vielleicht aus meinem Bewusstseinsraum verschwinden, dafür aber im Unbewussten/Impliziten umso wirksamer bleiben, weil ich dort keinen Einfluss auf sie nehmen kann, nicht in einen Dialog kommen kann und Veränderungen damit blockiert werden. Das kann dann auch der Beginn „psychischer Störungen“ und „unerklärlicher“ Symptome sein.
Wenn ich in den Nachrichten hören und sehen muss, wie der Regenwald am Amazonas brennt, macht mich das traurig über die Ausrottung der unzähligen Lebewesen in diesem Biotop und wütend auf die Verursacher dieser Katastrophe. Wenn ich achtsam bin – um ein konkretes Beispiel dafür zu geben-, nehme ich das alles – außen wie innen – wahr (= sage „ja“ zu deren Wahrheit). Dieses bedingungslose „Akzeptieren“ äußerer Missstände sowie meiner ganz persönlichen, höchst subjektiven Reaktion, bedeutet aber nur, sich den – inneren wie äußeren- Tatsachen zu stellen. Der Regenwald brennt. Ich bin entsetzt, traurig und wütend. So ist es. Das hat aber nichts damit zu tun, damit einverstanden zu sein, keinesfalls!
Wer in der Gegenwart lebt und sich und seine vielfältigen inneren Vorgänge ebenso beobachtet wie seine Umgebung, achtet sehr genau auf sich, darauf wie er lebt, was er isst und trinkt, welche Auswirkungen das hat. Das zieht geradezu zwangsläufig Kreise, die dann auch in politische Fragen und Wahlentscheidungen einfließen. Um bei dem Beispiel zu bleiben: ich denke dann an meine 3jährige Enkelin und ihre Lebensumstände, die sie vor sich haben wird. Und ich denke an die Kette: Sojaproduktion auf gerodeten Flächen im Amazonasgebiet=Export auch nach Deutschland=Hauptfuttermittel in der Massentierhaltung von Rindern=massive Treibhausgasemissionen (Quelle: Umwelt-Bundesamt). Und: Überproduktion von Überschüssen der Milch(produkte) in der EU=Export auch nach Afrika=Zerstörung der dortigen Milchwirtschaft=Migration aus wirtschaftlicher Not. Was für ein Irrsinn! Leider verdienen manche Menschen damit auch noch (viel) Geld. Und diese Themen sind allgemein recht unbeliebt und lösen beim Benennen oft betretenes Schweigen statt Diskussion aus. Ganz zu schweigen von den nachgewiesenen gesundheitsschädlichen Auswirkungen auf den Menschen durch eine entsprechende Ernährung (u.a. nachweislich erhöhtes Risiko von Krebsentwicklung und -wachstum).
Dem düsteren Szenario des Autors stelle ich ein positives Zukunftsbild gegenüber, das hoffentlich Realität wird:
Menschen leben immer achtsamer, ob mit der fundierten, wissenschaftlich evaluierten Methodik des MBSR (mindfulness based stress reduction), die sachlich und nüchtern daherkommt ganz ohne jeden Guru-Kult (ich selbst bin aber kein Achtsamkeits-Trainer dieser Art) , oder einer der ganz vielen anderen Strömungen und Gruppierungen, bei denen es um das Aufwachen aus dem Auto-Pilot-Modus des „immer weiter so“ geht. Diese Menschen finden Kontakt zu ihren tieferen Schichten und Motivationen, zu ihrem „wahren Selbst“ (das Leben fühlt sich dann innerlich „stimmig“ an) und es gelingt ihnen immer besser, dieses subtile innere Erleben bewusster in ihre Umgebung einzubringen- nicht (nur) durch Reden sondern durch bewusstes (Vor-)Leben. Sie bringen ihre Wachheit und Klarheit auch in den „gesellschaftlichen Diskurs“ ein und werden damit ganz natürlich auch politisch. Die Balance zwischen der inneren Weiterentwicklung zu einem befreiteren inneren Zustand und einem Einwirken auf die Umgebung, wo immer es möglich und wirksam ist, wird immer besser erreicht. In der Tradition von spiritueller (früher auch: „mystischer“) Entwicklung kann man diesen Menschen-Typus als „Verwirklicher“ bezeichnen: es geht nicht (nur) um die „Erleuchtung“ auf der grünen Wiese, sondern um die Verwirklichung mit Transformation des ganzen, gelebten Lebens in allen seinen Facetten.
Und, ja, Verwirklicher gibt es dann auch immer mehr in kommerziellen Unternehmen, und zwar auch in Führungspositionen! Es gelingt immer mehr, auch hier eine Balance zu finden, in der persönliches Wohlbefinden der Arbeitnehmer mit den Unternehmenszielen (die ethisch einwandfrei sein müssen) in Einklang zu bringen. Ich weiß konkret von Unternehmen, klein oder groß, in denen es schon in diese Richtung geht. Verwirklicher lassen sich nicht ausbeuten, jedenfalls nicht, ohne es zumindest zu bemerken. McKinsey und Co. mit der Zitronenpresse der Ausbeutung von „Humankapital“ sind überholt. Und: wem es wirklich gut geht, wird in der Tat besser und effektiver arbeiten. Warum soll das nicht eine win-win-win-Situation sein? (Das dritte „win“ war jetzt für Umwelt/Gesellschaft gemeint.)
Dr. med. Rainer Marien
Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie, Rehabilitationswesen
Autor von: Psychotherapie und Spiritualität (innenwelt verlag)