Innere Räume betreten

Unseren Input über unsere Sinne unmittelbar wahrzunehmen, ist ein wesentlicher Teil unseres Zugangs zum Hier und Jetzt, ohne den ein Leben in der Präsenz nicht möglich ist. Wer nicht richtig (zu) hört, sieht, riecht, schmeckt, fühlt, läuft halb blind und taub durch sein Leben und verwechselt in seinem Kopfkino ständig seine Vorstellungen und vorgefassten Meinungen über die Dinge mit der Realität. Das ist zwar leider ganz “normal”, verursacht aber jede Menge Probleme. Deshalb ist es in höchstem Maß sinnvoll, die unverfälschte, direkte, unmittelbare Wahrnehmung über unsere Sinne zu üben, bis das zur automatisch ablaufenden neuen festen Gewohnheit geworden ist.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie meine ersten Schritte in diese Richtung waren. Damals war ich auf einem Schweige-Retreat, auf dem von früh morgens bis spät abends meditiert wurde. Die Vorgabe war, einfach nur seine Atmung beim stillen Sitzen zu beobachten. Nichts leichter als das, oder? Aber jeder, der das schon mal versucht hat, kennt die permanenten Abschweifungen im Kopf, die einen in alle Richtungen ablenken, so dass das bloße Zurückkehren zur Beobachtung der Atmung schon immer wieder ein kleiner Erfolg ist. Als Hilfe wurde empfohlen, die Atemzüge zu zählen. Von 1-10, und dann wieder von vorne.

Zwischendurch war ich mit meinen Gedanken und Vorstellungen immer wieder ganz woanders, vergaß auch immer wieder mal zu zählen, bis mir dieses bewusst wurde und ich von vorne anfing. Ich war vielleicht zu 95 % mit meinem wabernden Kopfkino beschäftigt und nur zu 5 % mit der Atmung. Kaum war mein unruhiger Geist zu deren Beobachtung zurückgekehrt, wurde ihm langweilig. Ja, da waren die Atembewegungen des Körpers, anscheinend immer gleich, weil nicht wirklich intensiv mit ihren unzähligen Details wahrgenommen. Die Konzentration auf die Vorgänge im Körper zu halten und vielleicht Neues und Unbekanntes zu entdecken, fiel mir sehr schwer. Wozu auch, schließlich wusste ich doch ganz genau was Atmung ist.

Während der vielen Stunden auf dem Meditationskissen, wurde mir irgendwann klar, dass ich immer nur dachte, ich würde die Atmung beobachten. Tatsächlich warf ich ja immer nur einen kurzen Blick auf das, was im Körper ablief, wie ein Blitzlicht, um dann wieder im nie endenden Wirbel im Kopf zu leben- falls man das wirklich Leben nennen kann.

Diese Erkenntnis war ein Meilenstein und führte mich letztlich dazu, wenigstens vorübergehend in den Kosmos der direkten, ungefilterten, unkommentierten, puren Wahrnehmung einzutauchen, die Atmung und den Körper wirklich zu fühlen, und damit zeitweise wirklich präsent zu sein. So, als wäre ich vorher nur ewig um den Swimming-Pool herumgelaufen, war ich jetzt erstmals wirklich im Wasser.

Inzwischen mache ich immer wieder mal einen Bodyscan und leite andere an, das zu tun. Diese eigentlich extrem einfache Übung wurde aus einer buddhistischen Meditation abgeleitet, hat aber, wenn man so will, überhaupt nichts religiöses, “ buddhistisches”. Eher könnte man sagen, er ist eine nüchterne, ( natur-) wissenschaftliche Bestandsaufnahme und damit verbunden ein intensives Kennenlernen aller möglichen körperlichen Abläufe, so, wie man sie selbst spüren kann. Verbunden damit kann man lernen, immer besser auf den Körper zu hören, seine (wortlose) Sprache zu verstehen und von seinem Wissen zu profitieren. Klug und ganzheitlich orientiert wird der ganze Körper dabei “gecheckt”.

Keine Region wird ausgelassen. Wie fühlt sich mein linker Fuß, linker Unterschenkel, linker Oberschenkel…..mein Kopf heute an? Wie ist es überhaupt einen Körper zu haben? Was für Qualitäten kann ich jetzt gerade wahrnehmen?Wenn es mir dabei gelingt, “ganz in die Wahrnehmung hineinzugehen”, alles, was ich über den Körper weiß, zurückzustellen, nicht zu bewerten, nicht zu etikettieren, führt das in den Zustand des “ Nicht-ˇWissens” ( im Zen-Buddhismus so schön “ Anfänger-Geist” genannt) und wird zur wirklichen Meditation. Der Verstand hört auf zu plappern und seine meist völlig überflüssigen Kommentare abzuliefern. Er schweigt, bis er wirklich gefragt ist.

Diese Öffnung der Wahrnehmung kann man sich vergleichsweise so vorstellen, als ob man zunächst gedämpft Musik im Nachbarraum hört, bis die Tür geöffnet wird. Dann wird aus dem mulmigen Sound plötzlich klarer, brillanter Klang mit der ganzen Bandbreite von den Bässen bis in die höchsten Töne. Oder man stellt sich vor, verschiedene Oberflächen zu fühlen und abzutasten, während man Handschuhe trägt. Ohne diese Barriere zwischen meiner Haut und den äußeren Dingen, nehme ich trennscharf und so viel mehr wahr.

Beim direkten Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen, betritt man sozusagen neugierig und offen, unvoreingenommen neue Räume, deren Türen vorher verschlossen waren, und schaut sich dort um. In der Haltung des Nicht-Wissens seinen Körper von innen her immer wieder neu zu erkunden, macht geistig frisch. Wenn ich nicht weiß oder zu wissen meine, was da ist, bleibt nichts übrig als genau hinzuschauen, hinzuhören, hinzufühlen. Das erfordert Achtsamkeit. So zu leben, ist in sich Belohnung genug und macht innerlich reicher.