Augen auf oder zu beim Meditieren?

Das ist eine Frage, die mich beim Meditieren immer wieder einmal beschäftigt hat, die also schon seit über 30 Jahren da war, ohne dass es zu einer wirklichen Klarheit gekommen wäre. Erst die Beschäftigung mit der neuen und bislang wenig bekannten psychotherapeutischen Technik des »Brainspotting« hat das verändert.

Meine erste Meditationslehrerin, die selbst eine klassische Schulung in Zen- Meditation durchlaufen hatte, berichtete davon, dass sie dabei über Stunden mit halb geöffneten Augen auf der Matte sitzen musste, weil es die Tradition vorgab. Ihre Augen schmerzten und tränten. Dass das irgendwie wirklich nützlich gewesen wäre, wurde nicht erkennbar. Aber sie empfahl mir trotzdem, selbst auszuprobieren, was günstiger wäre, mit dem Hinweis, dass man bei geöffneten Augen in klarere Zustände kommen kann.

Bei der Ableitung eines EEG (Elektro-Encephalo-Gramm) von der Kopfoberfläche werden elektrische Spannungsdifferenzen von der Oberfläche des Gehirns in Form von Kurven sichtbar gemacht. Man weiß, dass verschiedene Zustände von Wachheit und Bewusstheit zu jeweils anderen Mustern führen. Beispielsweise herrschen im Schlaf langsame Wellen mit einer Frequenz von unter 8 Hz vor. Beim gesunden Menschen, der einigermaßen entspannt ist und die Augen geschlossen hat, findet sich ein so genannter Alpha-Rhythmus mit regelmäßigen Wellen in einer Frequenz zwischen 8 und 13 in der Sekunde. Sobald der Proband die Augen öffnet, verändert sich das Muster radikal, die Alphawellen verschwinden schlagartig und höherfrequente , unregelmäßigere Wellen herrschen vor. Diese frappierende Veränderung legt also objektiv messbar einen grundlegend anderen Zustand des Gehirns nahe. Neben vielem anderen wird dabei die sehr große Bedeutung des Sehens für das “Augen-Tier” Mensch deutlich. Bekanntlich nehmen Tiere ganz anders wahr als wir. Für Hunde zum Beispiel besteht die Welt vor allem aus einem Kosmos von Gerüchen und Duftspuren und die optischen Eindrücke sind weitaus weniger wichtig.

So wie ich es verstehe, kann das Ziel der Meditation nur sein, in der Präsenz des Hier und Jetzt anzukommen. Es geht nicht darum, vorübergehend in scheinbar höhere tranceartige Zustände abzuheben, sondern schlichtweg darum, sich selbst, die anderen und die ganze Welt wahrzunehmen, wie sie wirklich ist. Sich damit also auch zu »erden«, auf den Boden der Tatsachen zu kommen. In dem Moment, in dem das geschieht, kann sich unsere wahre Natur entfalten, Energiequellen öffnen sich und wir nehmen unseren eigenen inneren Reichtum wahr, und wir können unsere Potenzial kreativ verwirklichen.

»Die Augen vor etwas verschließen«, nicht hinzusehen, nicht wahrhaben zu wollen, ist das Grundprinzip unserer Verdrängung. Verdrängung führt unweigerlich weg von der Präsenz und erzeugt eine innere Konfliktspannung, weil sich die Wahrheit in unseren tieferen Schichten nicht mundtot machen lässt. Sie bleibt da, im Hintergrund oder Untergrund, um irgendwann an das Tageslicht zu kommen.

Wenn das so ist, ergibt sich die Frage, ob der Augenschluss beim meditieren nicht auch eine Form von Verdrängung ist. Ich habe gelernt, dass das durchaus so sein kann. Oft besteht bei geschlossenen Augen die Tendenz zu Tagträumereien, einem Abdriften in irgendwelche Fantasien bis hin zu kurzen traumartigen Sequenzen im Übergang zum Einschlafen. Schwieriges, Schmerzhaftes, Peinliches kann dabei vermieden werden. Man kann auf diese Weise sehr viel Zeit verschwenden ohne irgendeinen Gewinn zu haben.

Auf der anderen Seite kommen viele Menschen mit geöffneten Augen gar nicht erst dazu, sich auf wichtige innere Prozesse zu konzentrieren, wirklich in diese »hineinzukommen«. Unsere starke Fixierung auf die Optik lenkt uns oft zu stark ab und wir sind dann so sehr mit unserer Umwelt, die wir eben vor allem über die Augen wahrnehmen, beschäftigt, dass wir nicht wirklich zu uns kommen.

Daraus leitet sich folgende praktische Handlungsanweisung ab: Solange wir noch sehr mit unserer Umwelt beschäftigt sind, stark auf äußere Reize und Veränderungen reagieren, nicht wirklich bei uns sind, ist der Augenschluss hilfreich, um in unserer inneren Welt überhaupt erstmal anzukommen. Sobald das der Fall ist, sobald wir sozusagen den Schwerpunkt unserer Wahrnehmung stabil nach innen verlagert haben, führt das Öffnen der Augen dann aber zu größerer Wachheit, einer Intensivierung unserer Wahrnehmung und einer deutlich verstärkten Bewusstwerdung.

Wie ich gelernt habe, kann man dabei die Augen einfach dorthin wandern lassen, wo sie spontan hinwollen. Das kann das innere »Hin-Schauen« intensivieren, das innere Wahrnehmen von Bewusstseinsinhalten, das Verwandtschaft hat mit dem optischen Sehen und doch mehr und anderes ist. Mit geöffneten Augen, den Schwerpunkt der Wahrnehmung nach innen gerichtet, können dann auch unangenehme und schmerzhafte Erinnerungen als ganzheitliche Erscheinungen mit Gefühlen, Körperempfindungen, Bildern, Geschichten neu wahrgenommen werden. Im Licht maximaler Präsenz und Bewusstheit können sie dadurch neu und besser verarbeitet und damit auch ein Stück weit geheilt werden.