Über Ängste

Jeder Mensch kennt Angst und lebt – mehr oder weniger, seltener, öfter oder sogar ständig- mit ihr. Angst hat 1000 Gesichter und 1000 Ausprägungsgrade. Sie kann sich direkt zeigen, als krasse, unverblümte, massive Angst, die dann in uns die Führung übernimmt und alles dominiert. Sie kann aber auch ganz subtil und unauffällig daherkommen und verdeckt aus dem Hintergrund wirken. Im Kopf kann sie sich durch vermehrte Gedanken an Risiken und Gefahren äußern. In unseren Gefühlen gibt es eine ganze Skala von Nuancen, von leichter Beklommenheit über ein eindeutiges Angstgefühl bis hin zu schrecklichen Emotionen von Tod und Grauen. Körperlich gibt es eine entsprechende Skala, von leichter Angespanntheit, z.B. im Nacken, den Schultern und Armen, über ein mulmiges Gefühl im Bauch, bis hin zu heftigen Äußerungen von Angst mit Herzrasen, Schweißausbrüchen, Zittern u.v.a.m.

Ich gehe davon aus, dass alles in unserem System uns letztlich schützen und helfen will, also auch unsere Ängste. Wir haben – nach allem was ich erlebt habe und tagtäglich bei Menschen sehe- nichts „Fremdes“, Feindliches in uns, wie einen Alien. Bei den offenbar sinnvollen Ängsten, z.B. nicht ins Feuer zu fassen oder beim Überqueren der Straße auf den Verkehr zu achten, leuchtet das unmittelbar ein. Diese Art von Angst gibt uns (lebens-)wichtige Signale, unser Verhalten zu unserem Schutz zu steuern. Bei „psychologischen Ängsten“, wie zum Beispiel den verbreiteten sozialen Ängsten vor Beschämung, Blamage, Mobbing durch eine Clique, wird der Schutzsaspekt aber unklar bzw. ist nicht erkennbar. Warum haben Menschen solche Ängste, die sie anscheinend nur einengen, behindern, wie Steine, die sie sich selbst vor die Füße werfen?

Da muss ich etwas weiter ausholen und zunächst einmal feststellen, dass alle Menschen sehr komplexe Wesen sind, die verschiedene Persönlichkeitsanteile in sich haben, die uns in unterschiedliche Richtungen ziehen. Und auch im Widerspruch zueinander oder im Wettstreit miteinander sein können. Was die sozialen Ängste angeht, ist immer von einem sehr mächtigen Teil in jedem Menschen auszugehen, der von anderen, die ihm wichtig sind, gesehen, anerkannt, möglichst auch geliebt werden möchte. Nicht zufällig gehört „soziales Wohlergehen“ zur Definition von Gesundheit der WHO. Bei jemandem der sehr verletzlich ist bzw. geblieben ist (jedes Kind ist total verletzlich!), kann dieser Persönlichkeitsanteil dazu führen, alle Situationen, in denen Kränkungen und Verletzungen im sozialen Kontakt drohen könnten, vermeiden zu wollen. Da macht dann auch die zugehörige soziale Angst in ihrer Schutzfunktion Sinn. Nicht so wenige Schauspieler oder Musiker kämpfen für lange Zeit mit Bühnenängsten, die sie aber offenbar nicht daran gehindert haben, überhaupt so einen Beruf zu ergreifen. Warum sie diesen Schritt überhaupt getan haben? Vielleicht, weil der Ausdruck über künstlerische Medien wie Theater, Film oder Musik das tiefere, unverzichtbare Anliegen in ihnen ist, der entscheidend wichtige Ausdruck ihres eigentlichen Wesens, ihrer wahren Natur (man kann dann auch vom „wahren Selbst“ sprechen), der Ausdruck ihrer ureigenen Lebendigkeit.

Dann gibt es aber auch noch starke Ängste, die im Zusammenhang mit Traumatisierung (psychisch, ggf. auch körperlich) entstanden sind. Hier greifen Erläuterungen von spirituellen Lehrern oft zu kurz, weil sie diese speziellen Ängste nicht berücksichtigen. Ich gehe von einem Kontinuum von Situationen aus, die als Trauma wirken können. Auf dem einen Ende sind die Schock-Traumen zu finden, wie Überfall, Vergewaltigung, Unfall, Naturkatastrophe. Diese Erlebnisse überfordern bei jedem Menschen die Fähigkeit, so ein Ereignis zu verarbeiten. Es kommt zu inneren Wunden in unserem System, die oft nur sehr schwer oder auch gar nicht heilen, und damit für den Rest des Lebens behindern. Es gibt auch oft weniger heftige Schock-Traumen, wie zum Beispiel als Jugendlicher in der Schule gemobbt zu werden, die aber trotzdem „sitzen“ und aus dem inneren Unter- und Hintergrund aus über Jahre seelisches Leid verursachen.

Auf dem anderen Ende des Kontinuums sind sogenannte „Entwicklungstraumen“, die durch weniger dramatische, aber immer wiederkehrende Schädigungen während Kindheit und Jugend auftreten. Vernachlässigung durch die wichtigen Bezugspersonen, Anwendung von psychischer und/oder physischer Gewalt als „Erziehungsmethode“, emotionaler oder sexueller Missbrauch sind häufig auftretende Beispiele.

Nach allem, was ich erlebt habe und weiß, ist es hier entscheidend wichtig, unsere „biologischen Wurzeln“ anzuerkennen. Auch die Ängste, die im Zusammenhang mit Traumatisierung auftreten, wollen uns schützen, allerdings in einer zu ausgeprägten Form: unser „Reptilien-Gehirn“, das wir mit unseren entfernten Verwandten, den Tieren, gemeinsam haben, vergisst diese Ereignisse nie, vielmehr brennen diese sich in unser System (Körper, Seele, Geist) ein und melden sich auch dann noch, wenn längst keine Gefahr mehr droht. Die Schutzfunktion wird dadurch selbst zum Problem bis hin zur Angsterkrankung.

Der entscheidende Punkt ist, dass jemand, der Traumen erlebt hat, sein Vertrauen in diese Welt und die Menschen verloren hat und zutiefst verunsichert ist. Bekanntlich ist verloren gegangenes Vertrauen nur sehr schwer zurückzugewinnen und das erfordert viel Mühe und Zeit. Hier wirken Techniken, wie sie von Peter Levine empfohlen werden, heilsam: dazu gehört ein Pendeln zwischen immer wieder mal (und allmählich immer öfter) erreichbaren Zuständen von wirklicher Tiefenentspannung ohne jede Angst einerseits und dem vorsichtigen Herantasten an die im „Trauma-Netzwerk“ im Gehirn gespeicherten, Angst machenden Inhalte andererseits. Dieses Herantasten ist Bestandteil einer Arbeit am inneren System, bei der eine allmähliche Integration erreicht werden kann. Die erlittenen Verletzungen werden nie vollständig vergessen, aber aus der ursprünglichen Wunde kann eine Narbe werden, die man nur noch gelegentlich und ohne den ursprünglichen Schmerz und ohne Angst spürt. Je nach Ausprägung und den persönlichen Gegebenheiten kann dies ggf. auch in Selbsthilfe erarbeitet werden. In schwereren Fällen ist aber in jedem Fall eine psychotherapeutische Unterstützung sinnvoll und erforderlich.

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