Mögen Sie/ magst du auch diese alten Schränke mit den vielen gleich großen Schubkästen, die es früher in alten Eisenwarenläden oder Apotheken gab? Auf mich üben diese Teile eine gewisse Faszination aus. Hier hat alles seine Ordnung, alles hat seinen Platz, die unzählig vielen kleinen Dinge, die sonst unsortiert in der Gegend herumliegen würden sind schnell zu finden. Klare Strukturen, waagerecht und senkrecht, und alle Schubläden sind genau gleich groß! Wunderbar und beruhigend! Und ästhetisch auch noch mit den schönen alten Hölzern!
Fast zu schade, um es als Metapher für eine engstirnige, eingeengte Sicht der Dinge zu benutzen. Aber doch so naheliegend. Unsere heutige, „zivilisierte“ westlich orientierte Welt ist komplex und wird ständig komplexer. Kaum irgendwann sind die Dinge für den aufgeklärten, informierten Menschen der Jetzt-Zeit nur schwarz oder weiß. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen. Es gibt meistens unzählige Graustufen.
Ich fürchte, das ist einer der Gründe, warum bestimmte politische und religiöse Richtungen Zulauf haben. Da werden die Dinge schön kleingehackt und zurechtgestutzt in übersichtliche Teile. Da gibt es scheinbar das allein Richtige und Wahre, das Gute und das Böse. Und demzufolge auch scheinbar einfache Lösungen. Die Axt ist dabei im Kopf, der alle möglichen Denkoperationen vollführen kann. Ob die Resultate sinnvoll sind, ist eine andere Frage. Die können oft besser das Herz und die Intuition entscheiden. Ein Großteil unserer Gedanken macht weder Sinn noch ist er nützlich für das eigene Wohl und das aller Wesen.
Z.B. kann man gedanklich mit seinen Vorstellungen eine Hand von einem Körper trennen und immer noch denken: das ist ja eine Hand. In der Realität ist die abgetrennte Hand aber tot. Als lebendige Hand gibt es sie nur im komplexen Paket mit den vielen Verbindungen zu einem lebenden Menschen: dem Kreislauf, der Sauerstoff und Energie-Nahrung liefert, den Nervenbahnen, die die Hand von der Zentrale aus steuern, dem „vegetativen System“, das wiederum mit dem (gefühlten) Herzen verbunden ist und darüber mit dem ganzen Leben.
Die abgetrennte Hand ist also ein „Abstraktion“, was ja bedeutet, es sind konkrete Einzelheiten zugunsten einer allgemeingültigen Vorstellung abgetrennt worden. Diese Abspaltung hat ihren Ursprung in unserem, dualistisch in Gegensätzen funktionierenden Denkapparat. Aus der tatsächlichen Komplexität entsteht scheinbare Einfachheit durch gedankliches Abschneiden und Nicht-Mehr-Beachten. Das gilt für die oft sehr komplizierten äußeren Bedingungen ebenso wie für wesentliche innere Aspekte wie Gefühle.
Vor dem Hintergrund von Ideologien (deren Grundsätze geglaubt werden, ohne wirklich tief hinterfragt zu werden) erzeugt die Axt im Kopf, oft zusammen mit der dazu gehörigen Portion Herzlosigkeit, durch Spaltung klare Bruchstücke, die sich wunderbar in Schubladen packen lassen. Endlich ist alles klar, hat alles seinen Platz. Die Vorurteile/Vorverurteilungen sind damit eingetütet.
Aber es gibt auch die unbequemen Querdenker, die es sich nicht so einfach machen und das System durchschauen. Sie halten ihr Körper-Geist-Seele-System offen dafür, dass es alles auch ganz anders sein könnte. Sie sehen Verbindungen zwischen den einzelnen Schubladeninhalten und haben daraus resultierend andere Ordnungsideen. Sie schalten Herz und Intuition nicht einfach ab, sondern stellen sich der Realität des wirklichen Lebens, das voller Wunder, voller Paradoxien und Widersprüche ist und nie wirklich ganz verstanden werden kann. Das ist nicht immer einfach, aber der einzige Weg zu den tieferen Wahrheiten von einem Selbst und dem großen Ganzen.
Der schöne Schubladenschrank kann dabei seinen Platz behalten, aber nur für die unzähligen Kleinteile, die wir im Leben so brauchen. Im Übrigen zählen nur die Gestalten des tatsächlichen Lebens, wie jeder lebendige Mensch, der bereits für sich ein Kosmos von Milliarden Vorgängen und einem riesigen Potenzial ist, das es zu entdecken, in seiner Einmaligkeit zu würdigen und zu entwickeln gilt.